Evangelische
Kirchengemeinde
Köngen
 
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20221106
06.11.2022
Gottesdienst zum drittletzten Sonntag im Kirchenjahr
mit dem Musikstück Sicilienne von Marie Therese Paradis (1759−1824)
Cello: Uwe Johannsen, Orgel: Amadeus von Ridder
Schriftlesung: Röm 8, 18−25 Hoffnung für ganze Schöpfung
18Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit − ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat −, doch auf Hoffnung; 21denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. 23Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unse res Leibes. 24Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 25Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.
Marie Therese Paradies ist seit ihrem 4. Lebensjahr blind und war und blieb eine begnadete Musikerin, deren Stücke heute kaum mehr bekannt sind. Seit vielen Jahren schätze ich Ihre Sicilienne. Über ihr Leben habe ich erst später einiges erfahren. Sie stammt aus Wien, hat dort bei Kozeluch, Righini, Salieri und dem Kirchencapellmeister Friebert studiert und später nach dem Tod ihres Vaters, der sie immer förderte, ein Musikinstitut für junge Mädchen eröffnet.
Schon in früher Jugend trat sie als Sängerin in Kirchenkoncerten auf, spielte fantastisch Klavier und Orgel und komponierte. In wie großer Verehrung sie bis in ihre letzten Lebenstage beim Publicum stand, beweist eine Anzeige anlässlich ihres Todes. Ein Wiener schreibt an die Redaktion der Allgem. Leipziger musik. Zeitung: „Heute (am 1. Februar 1824) starb im 64. Lebensjahre die berühmte blinde Virtuosin, Fräulein Therese Paradies; sie hinterläßt viele, um ihren Verlust innig trauernde Schülerinnen, in deren dankbaren Herzen ihr theures Andenken noch lange fortleben wird.“
Und sie hinterließ ihre Musik, wobei viele ihre Werke verloren gegangen sind. Wir hören ihr populärstes Werk, wobei die Autorenschaft umstritten ist:
Uwe Johannsen, Cello und Amadeus von Ridder spielen uns nun ihre Sicilienne.
Mit meinem gefüllten Einkaufswagen stehe ich in Gedanken vor dem Aufzug, liebe Gemeinde.
Die Pfeiltaste nach unten habe ich gedrückt.
Ich will zu meinem Auto ins Parkdeck fahren.
Nun aber denke ich schon an den Geburtstagsbrief, den ich einer Freundin heute noch schreiben will.
Plötzlich höre ich: Türe öffnet sich − und werde aus meinen Gedanken gerissen.
Ich schiebe den Einkaufswagen in den Aufzug.
Da kommt wieder die Stimme: Türe schließt.
Ich schmunzle zunächst ein wenig.
Und denke: das sehe ich doch.
Aber dann wird mir bewusst:
nicht alle Menschen können es sehen.
Wie schön für sie, wenn es Ihnen gesagt wird.
Und wie gut für mich, dass ich aus meinen Gedanken gerissen wurde und der Aufzug sich nicht wieder ohne mich geschlossen haben.
Abwärts, sagt die Stimme mir noch und dann setzt sich der Aufzug in Bewegung.
Als Kirchengemeinde bemühen wir uns um Inklusion:
Menschen mit und ohne Handicap sollen dabei sein können, ist zumindestens mein Anspruch. Aber an diesem Beispiel merke ich, dass hier noch viel mehr möglich wäre. Ich muss selber im Alltag erst mal aufmerken, weil für mich so vieles selbstverständlich ist, dass ich die Bordsteinkanten oder fehlende Markierungen und anderes mich noch vor keine Schwierigkeiten stellen.
Gut, wenn Menschen dann darauf hinweisen, wo es noch etwas zu verändern gilt und dann Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
Denn dann erleben Menschen: für mich öffnet sich eine Tür, für mich geht hier der Himmel auf. Mitten im Leben ist Reich Gottes spürbar.
Im heutigen Predigttext spricht Jesus davon.
Im 17. Kapitel des Lukasevangeliums lesen wir:
Als Jesus aber von den Pharisäern gefragt wurde:
Wann kommt das Reich Gottes?,
antwortete er ihnen und sprach:
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen;
man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da!
Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Gerne wären wir schon dort im Paradies, im Reich Gottes, im Schlaraffenland, wo es alles gibt, was ich mir wünsche und zugleich keine Einschränkungen, kein Leid und keine Schmerzen.
Aber so ist es nie im Leben und doch kann sich mittendrin immer mal wieder der Himmel öffnen und das Reich Gottes spürbar werden.
Paradies hieß Marie Therese.
Und ihre Eltern wollten, dass sie es gut hat.
Ihr Vater hat ihr musikalisches Talent sehr gefördert.
Schlimm war es, als sie überraschend erblindet ist.
Niemand weiß heute, was dies ausgelöst hat.
Zunächst aber bedeutete es für das Mädchen, dass sie eine Vielzahl von Behandlungen von anerkannten und nicht anerkannten Medizinern über sich ergehen lassen musste. Bis sie irgendwann ihr Leben als Blinde so annehmen musste und durfte und sich ganz der Musik widmen.
Was sie wohl gesagt hätte, ob sie das Paradies, das Reich Gottes auf Erden immer wieder gespürt hat.
Jedenfalls denke ich, dass Marie Therese Paradies dies andere hat erleben lassen.
Wie ich darauf komme?
Zum einen hat sie zahlreiche Konzertreisen quer durch Europa gemacht und Menschen mit ihrer Musik und ihrem Können begeistert.
Zum anderen aber hat sie für sich und für viele andere blinde Menschen und vor allem Mädchen und Frauen damals, Wege zum Leben geöffnet.
Eine große Tournee führte die Pianistin von 1783 bis 1786 unter anderem nach Hamburg, wo sie mit Carl Philipp Emanuel Bach zusammentraf, Berlin, in die Schweiz, nach Frankreich, England, in die Österreichischen Niederlande und nach Böhmen.
Begleitet wurde sie von ihrer Mutter Maria Rosalia und ihrem Librettisten, Violinisten und späteren Lebensgefährten Johann Riedinger, der ihretwegen eine Blindennotenschrift erfand.
Nahezu alle Konzertbeschreibungen dieser Zeit lauten ähnlich:
„Diese blinde Virtuosin war die erste, welche uns aus dem irrigen Wahne riß, dass das Klavecin in einem großen und weitläufigen Sale keine sonderliche Wirkung machen könne: sie bewies das Gegenteil mit der Stärke ihres Spieles, zu allgemeinem Beifalle.“
Sie beeindruckte und beeinflusste insbesondere Valentin Haüy und Johann Wilhelm Klein, die Begründer der ersten Blindeninstitute in Paris, Wien und Berlin.
Sie hat in Paris die "Königliche Anstalt für junge Blinde" mitinitiiert.
Für ihre Korrespondenz verwendete sie einen von ihrem früheren
Hauslehrer, entwickelten Setzkasten, eine Vorform der Blindenschreibmaschine. Damit war der Grundstein gelegt zur heutigen Blindenschrift von Louis Braille.
Eine besondere Herausforderung stellten die Logistik, das teils noch schlecht ausgebaute Stra6szlig;ensystem und vor allem die teils üblen Unterkünfte in jener Zeit dar. Eine weitere blinde Zeitgenossin Marianne Kirchgeßner, war nahezu Zeit ihres ganzen Lebens auf Tournee.
Jahre später gründete sie in ihrer Wohnung in Wien ein Institut für musikalische Erziehung, an dem sie blinde und sehende Mädchen und junge Frauen in Klavier, Gesang und Musiktheorie unterrichtete.
Dies war möglich durch einen eigens für sie angefertigten Notensetzkasten, mit dem Musik begreifbar gemacht werden konnte.
Nicht nur für sich selbst und alle, die ihr zuhörten bei ihren Konzerten, auch für viele andere blinde Menschen hat sie etwas vom Paradies vom Reich Gottes aufscheinen lassen in ihrem Leben.
Sicherlich gab es da auch für sie, die Menschen damals wie uns heute viele Zeiten des Seufzens und Stöhnens über Leid und Not, Krankheit und Einschränkungen.
Sicher kannte Marie Therese Paradies die Worte des Paulus, die wir in der Schriftlesung hörten.
Ich lese sie nochmals in der Übersetzung der Basisbibel:
„Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.
Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“
Viel Geduld brauchen wir immer wieder im Leben.
Dabei ist es kein Warten und die Hände in den Schoss legen.
Beten und handeln − beides gehört zum Warten in Geduld. Und da staunte ich über Marie Therese Paradies, wie sie ihr Leben als blinde Musikerin angenommen und gestaltet hat und viele dadurch zu stolzen Musikerinnen gemacht hat.
Wie ihr das gelungen ist, weiß ich nicht.
Auch nicht, ob sie diese Geschichte kannte, von einer unbekannten Person verfasst:
„Eines Abends erzählte ein alter Indianer seinem Enkel vom Kampf, der in jedem Menschen tobt: In unserem Herzen leben zwei Wölfe. Sie kämpfen oft miteinander. Der eine Wolf ist der Wolf der Dunkelheit, der Ängste, des Misstrauens und der Verzweiflung. Er kämpft mit Zorn, Neid, Eifersucht, Sorgen, Schmerz, Gier, Selbstmitleid, Überheblichkeit, Lügen und falschem Stolz.
Der andere Wolf ist der Wolf des Lichts, des Vertrauens, der Hoffnung, der Freude und der Liebe. Er kämpft mit Gelassenheit, Heiterkeit, Güte, Wohlwollen, Zuneigung, Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Zuversicht!

Der kleine Indianer dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach und fragte ihn dann: Und welcher Wolf gewinnt?
Der alte Indianer antwortete: Der, den du fütterst.
Jesus, Paulus und Marie Therese Paradies und viele andere zeigen uns, dass es wichtig ist, den Wolf des Lichts in uns zu füttern. Gerade in dieser dunklen Zeit, die wir durch Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe noch verdüsterter erleben, ist es wichtig den Wolf des Lichts in uns zu stärken. Ich ziehe Kraft und Licht, Wärme und Liebe aus meiner Verbindung mit der göttlichen Quelle, die mein eigenes inneres Feuer und mein Gottvertrauen immer wieder neu entfachen kann. Jeden Moment geschieht ein Wunder, wenn ich Verantwortung übernehme, bete und handle zum Wohl für andere und für mich. Dann werden auch wir das Reich Gottes mitten unter uns sehen.
Amen