Evangelische
Kirchengemeinde
Köngen
 
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20231224
24.12.2023
Predigt in der Christvesper 2023 / Peter− und Paulskirche Köngen
Schuldekan Andreas Lorenz (Schorndorf & Waiblingen)
Andreas.Lorenz(at)elkw.de
Liebe Gemeinde,
da ist sie also wieder, diese alte und vertraute Geschichte, die heute wieder neu unter uns werden will. Maria und Josef waren unterwegs in ihr Heimatdorf. Nicht irgendwo hin, sondern eben dorthin, wo zumindest Josef seine Wurzeln hatte.
Stellen wir uns demnach vor, ein Köngener kommt nach Hause − so, wie viele auch in diesen Tagen nach Hause gekommen sind, um ihre Eltern oder Großeltern zu besuchen, alte Freundinnen und Freunde zu treffen und vielleicht auch in die Kirche zu gehen, um die alten Lieder zu singen, sich von der Stimmung mitreißen zu lassen und vielleicht den Pfarrer mal wieder zu erleben, der sie einst konfirmiert hat.
Da kommt also ein waschechter Köngener Sproß hier ins Dorf, vielleicht ein Deuschle, eine Maier, ein Fallscher, eine Zaiser…habe ich einen Namen vergessen? − Egal, Sie wissen, was ich meine. Können Sie sich vorstellen, dass dieser hier keinen Raum in der Herberge findet? Bei der Größe dieser Familienclans. Irgendwo wird da doch noch Platz sein.
Allein aus Neugier: was ist das wohl für einer, dessen Eltern oder der selber einst weggegangen war und jetzt nach Hause gekommen ist, und sei es auch nur für ein paar Tage.
Na ja, länger sollte Besuch in der Regel auch nicht bleiben, oder?
Und ich stelle mir vor: wenn das in Köngen schon so wäre, heute im 21. Jahrhundert, um wieviel mehr wäre das wohl im Alten Orient so gewesen. Kann man sich wirklich vorstellen, dass Josef keine Verwandtschaft mehr in Bethlehem hat, wenn er aus dieser Gegend stammt? Es fällt mir schwer zu glauben: Kein Platz in der Herberge!
Es ist ein unglaublich wirkmächtiges Bild, das da gezeichnet wird, das Bild fehlender Gastfreundschaft. Da gibt‘s gerade mal den Stall, der für das junge Paar noch übrig bleibt. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Bild in unzähligen Krippenspielen und Predigten immer wieder verbunden mit der Erfahrung eines Fremden, der keine Herberge findet.
Doch die eigentliche Herausforderung, die eigentliche Provokation dieses Bildes ist eine andere: es ist doch das Kind des Dorfs, das keine Herberge findet, derjenige, der eigentlich dazu gehört, wird in den Stall verwiesen, es ist das Mitglied des Clans, der keinen Platz in der Herberge bekommt − oder im Gästezimmer (wie man auch übersetzen kann).
Das wiederum erinnert mich an zahlreiche Familiendramen, die mir in meiner Praxis als Pfarrer begegnet sind.
Ich weiß beispielsweise von einem schwulen Dorfkind, aufgewachsen in einer sehr frommen Familie − er kommt praktisch nicht mehr in sein Heimatdorf zurück. Er gehört nicht mehr dazu. Seine Familie schämt sich für ihn.
Kein Platz für ihn in der Herberge.
Oder ich denke an die Jugendliche, die mit 17 Jahren schwanger geworden ist. Von einem zwanzig Jahre älteren Mann. Im Dorf hat sie keinen Platz mehr. Zumindest die Familie steht nicht so richtig zu ihr. Sie selbst schämt sich. Heimlich trifft sich die Mutter manchmal mit ihr.
Aber ansonsten gilt: kein Platz in der Herberge.
Oder ich denke an den jungen Arzt, der sich mit seinem Vater verworfen hat und heute keinen Kontakt mehr besteht.
Zerstrittene Familien.
Verfeindete Geschwister.
Heimatlose Kinder.
Vielleicht finden Sie diese Geschichten auch aus der Zeit gefallen. Wir sind doch inzwischen alle recht tolerant und offen geworden. Klar, es hat sich einiges verändert. Aber es gibt sie immer noch. Solche Geschichten. Oder auch andere Familiengeheimnisse.
Psychotherapeuten könnten Lieder davon singen. Fällt Ihnen vielleicht auch eines ein?
Mir kommen darüber hinaus diejenigen in den Sinn, die ihr Heimatdorf besuchen und dort tatsächlich herzlich willkommen sind − mit einem kleinen Haken allerdings. Denn kaum dort, in der alten Heimat angekommen, fallen sie wieder zurück in eine alte Rolle.
Sie sind nicht oder bringen nicht wirklich das mit, was und wer sie inzwischen geworden sind, weil das eben vermeintlich nicht hierher passt, weil die Eltern oder die Geschwister damit Schwierigkeiten haben, weil das System, das alte Beziehungsgeflecht, einen dermaßen im Griff hat, dass man selber gar nicht anders kann, vielleicht auch, weil man befürchtet, dass der neu gewordene oder die anders gewordene keinen Platz in dieser alten Herberge namens Heimat finden könnten…
Im Grund sind das ganz gewöhnliche Familiengeschichten, die wir alle kennen, in die wir möglicherweise auch selber verstrickt sind.
Seien wir doch mal ein bisschen selbstkritisch: Wieviel Veränderung, wieviel Entwicklung gestehen wir wirklich einander zu? Und wo fängt es möglicherweise an, einem Angst zu machen, oder einem fremd zu werden?
Vielleicht jedoch kann das Weihnachtsevangelium uns dazu ermutigen, sich neu und aufmerksam zu begegnen − gerade, wenn man sich lange nicht mehr gesehen hat.
Vielleicht wäre dieses Weihnachtsfest eine Gelegenheit, dem Neuen im Alten, dem Veränderten im Bewährten, dem möglicherweise Fremden im Vertrauten Raum zu geben. Den anderen nicht zu fixieren, nicht festzulegen auf ein Bild, das man von ihm hat oder eine Erfahrung, die man mit ihm verbindet. Vielleicht auch sich selber den Raum zuzugestehen, mal was anderes zu denken, zu sagen, zu tun…
Neugierig aufeinander und auf sich selber zu bleiben, gerade, wenn man sich meint gut zu kennen, das ist eine besondere Herausforderung familiärer und freundschaftlicher Beziehungen. Weihnachten − diese Zeit der zahlreichen Familientreffen lädt aus meiner Sicht jedoch ganz besonders dazu ein, sich dieser Herausforderung zu stellen, den Raum, die Herberge eben zu öffnen… füreinander und miteinander, damit möglicherweise etwas Neues untereinander geboren werden und wachsen kann…
Und natürlich ist das nicht das Christuskind selbst, aber vielleicht ein kleines göttliches Glitzern, das uns aus der Weihnachtskrippe heraus zu verzaubern vermag.
Es gibt jedoch noch eine andere Perspektive, jenseits unserer Familiengeschichten, die mir bei diesem so starken Bild "Kein Platz in der Herberge" in den Sinn kommt. Wenn es um eine Situation geht, in der solche, die eigentlich dazu gehören, keinen Platz mehr in der Herberge haben, dann drängt sich natürlich gleichermaßen eine gesellschaftliche Perspektive auf. Vor allem zur Zeit. Und dies mit einer gewissen Brisanz.
Am 9. November − Sie erinnern, welches geschichtsträchtige Datum das ist? − habe ich in der Zeitung gelesen, auf welche Weise die Stuttgarter Ärztin Elina Henkes ihr Heimatland Deutschland als Jüdin gegenwärtig erlebt: „Ich kenne hier keinen Juden, der nicht verzweifelt ist.“ sagt sie.
Sie erzählt, dass sie nach dem 7. Oktober, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, aus ihrem beruflichen und privaten nicht−jüdischem Umfeld lediglich einzelne unterstützende Nachrichten bekommen hat.
Ansonsten: Stille.
Sie schäme sich für ihre Naivität und Offenheit den anderen gegenüber, sagt sie. So wenig Empathie. Denn natürlich sind auch Freunde und Verwandte von ihr von diesem Terroranschlag betroffen. Im selben Beitrag erzählt sie auch, dass ihrem fünfjährigen Sohn in der Kita von einem gleichaltrigen Mädchen an den Kopf geworfen wurde: „Ich mag keine Juden. Sie haben Jesus gekreuzigt.“ Elene Henkes hat schon als junge Mutter zweier Söhne gespürt: „Mich als Jüdin zur Mutter zu haben macht sie angreifbar und verwundbar.“
Was manche schon längst überwunden geglaubt hatten, scheint in jüngster Zeit wieder aus allen möglichen Ecken hervor zu kriechen: Antisemitismus und Judenhass. Und Elina Henkes, die Deutschland selbstverständlich stets als ihre Heimat wahrgenommen hat, fühlt sich auf einmal wieder sehr, sehr fremd.
Kein Platz in der Herberge?
Ich denke auch an die Geschichte des deutschen Schriftstellers und Journalisten Yassin Musharbash. Er ist in Nordrhein−Westfalen geboren und aufgewachsen, lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Berlin und schreibt neben Krimis immer wieder auch für die ZEIT und den SPIEGEL.
Er zeigt sich tief verletzt und empört über die Rede unseres Bundespräsidenten am 8. November dieses Jahres, in dem sich dieser ausdrücklich an die Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln in Deutschland richtet.
Steinmeier sagte unter anderem: „Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren! Sprechen Sie für sich selbst! Erteilen Sie dem Terror eine klare Absage!„
Im Grund eine Aussage, der wir alle zustimmen möchten. Doch aus der Perspektive eines Betroffenen, der nur in dieser Passage explizit angesprochen wird, hört sich das vielleicht ganz anders an.
Und Musharbas kommentiert: „Was diese Sätze schmerzhaft macht: Sie verkennen, wie viel von uns Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln in Deutschland mit der Hamas nichts zu tun haben wollen. Dass viele von uns Opfer von Islamisten sind. Weil wir queer sind oder weil wir trinken, weil wir selbstständig denken, weil wir für Kunst−, Meinungs− und Pressefreiheit eintreten, weil wir jüdische und israelische Freundinnen und Freunde haben, weil wir Christen sind oder Atheisten, weil wir wählen, weil wir glücklich sind, nicht unter der Hamas leben zu müssen… Und von uns verlangt der Bundespräsident, dass wir Nein zum Terror sagen, als gäbe es da eine unbeantwortete Frage?“
Musharbas erlebt, dass er und viele andere durch diese Rede des Bundespräsidenten wieder einmal zur Risikogruppe stilisiert worden sind: So richtig gehört ihr eben doch nicht dazu. Auch, wenn ihr hier geboren und aufgewachsen seid, auch wenn ihr den deutschen Pass habt, zur Wertschöpfung beitragt, Steuern zahlt, euch ehrenamtlich engagiert,…
Die Muslima Kübra Gümüsay hat diese Woche in der ZEIT formuliert: „Und plötzlich sind wir ausgebürgert!“
Kein wirklich guter Platz in der Herberge, oder?
Offensichtlich gibt es Deutsche erster und zweiter Klasse. Vielleicht kann dieses Weihnachten 2023 uns daran erinnern, dass Jüdinnen und Juden zu uns gehören, genauso wie Musliminnen und Muslime. Dass sie Platz haben sollen in der Herberge. Dass sie Verbundenheit erleben mögen in ihrem Schmerz und dass sich andere mit ihnen freuen, wenn ihnen das Leben glückt.
Gebt ihnen Platz! Sie gehören nicht in den Stall, sie gehören schlichtweg ins Haus, an den gemeinsamen Tisch. Sie gehören zu uns. Nicht im Sinne familiärer Glückseligkeit, sondern als Ausdruck einer schlichten Selbstverständlichkeit: Das ist halt so. Unsere Gesellschaft ist bunt. Und manchmal − sicherlich nicht immer − können wir diese Buntheit auch als Farbenpracht und als Ausdruck von Lebendigkeit erleben.
Auf jeden Fall gehören sie dazu:
Jüdinnen und Juden,
Musliminnen und Muslime,
Christinnen und Christen,
Schwule und Lesben,
vermeintlich gescheiterte
und vermeintlich erfolgreiche Familienmitglieder,
die Normalos genauso wie die Besonderen,
die Akademiker gleichermaßen wie jene, die es nicht schaffen für sich selber zu sorgen und auf Bürgergeld angewiesen sind…
Ganz gleich, was ihr seid und wer ihr seid:
Ihr gehört dazu.
Wir gehören zusammen.
Und es ist viel Platz in der Herberge.
Und wo ihr verletzt,
wo ihr geschändet,
wo ihr verfolgt werdet,
da stehen wir auf Eurer Seite!
Garantiert!
So wie Gott in der Geburt des Jesus von Nazareth gezeigt hat, dass er auf unserer aller Seite steht, auf jeden Fall auf der Seite der Ausgestoßenen und Geschändeten.
So wie Gott in der Geburt des Jesus von Nazareth gezeigt hat,
dass er die Welt und uns alle nicht allein lässt,
Sondern sich auf uns einlässt,
hier geboren werden will,
mitten unter uns,
damit endlich
endlich
wieder Friede werde
und die Liebe wieder Raum findet,
einen Platz in der Herberge,
in unseren Häusern
und in unseren Herzen.
Amen